...
Die Kinder im Raum vor uns rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Sie sollen gleich einen kurzen Vortrag anhören, aber die Sechs- und Siebenjährigen finden das Gespräch mit ihren Freunden eigentlich spannender als das, was diese deutschen Jugendlichen wohl erzählen wollen.
Einen kurzen Moment lang denke ich, dass sie genauso gut Kinder aus der Villa Industrial oder der 250, den Armenvierteln San Felipes, sein könnten – nette, aber unruhige Mädchen und Jungen, die halt auf einer anderen Schule sind. Doch dann tritt ihre Lehrerin in den Raum und fegt diese Illusion aus meinem Kopf.
Auch bei den Erst- und Zweitklässlern des Colegio Aleman macht sich der Unterschied an Herkunft, Erziehung und Bildung zu den Kindern in der Villa Industrial bemerkbar. Brav und im Chor begrüßen sie Tati, die versucht, ihnen das Leben Gleichaltriger auf der anderen Seite des Flusses zu erklären. Es ist nicht leicht, denn diese Kinder haben mit ihnen nicht viel gemeinsam.
Zwar arbeiten die Eltern beider Gruppen im Sommer im Export von Obst – doch während die Väter und Mütter des Colegio Aleman aus den Büros der Agrarkonzerne Ernte und Export organisieren, schuften die Familien aus der Villa Industrial auf den Weinfeldern und in den Verpackungsstationen.
Die einen können für jedes Kind 200.000 Pesos monatlich an die Schule zahlen, die anderen wären oft froh, wenn die ganze Familie so viel Geld für den Monat hätte.
So wie es sehr unwahrscheinlich ist, dass auch nur eins der Kinder, die im centro communitario der Villa Industrial spielen oder ihre Hausaufgaben machen, jemals einen Universitätsabschluss machen wird, so ist es wohl sicher, dass keine Schülerin und kein Schüler der Deutschen Schule jemals in Armut leben wird. Praktisch alle, die hier ihren Schulabschluss machen, können später studieren – sie haben die nötige Vorbildung und ihre Eltern können sich nach dem Schulgeld auch noch die Studiengebühren leisten.
Im schlechten öffentlichen Schulsystem schafft es nur die Hälfte der SchülerInnen an die Unis – wer dann noch aus einer armen Poblacion kommt und vielleicht Eltern hat, die nur drei oder vier Jahre zur Grundschule gegangen sind, hat keine Chance.
Diese Zustände haben vor Wochen zu den größten SchülerInnenstreiks und -protesten seit Jahrzehnten geführt. Die Regierung gestand einige finanzielle Erleichterungen für die ärmeren SchülerInnen zu und setzte eine Kommission für eine grundlegende Bildungsreform ein. Vielleicht kommen dabei einige Verbesserungen in der öffentlichen Bildung heraus – dass der Klassencharakter des chilenischen Bildungssystems aufgehoben wird, glaubt kaum noch jemand.
Als einstiges Muster- und Probeland neoliberaler Politik ist Chile auch heute noch ein Bilderbuch zur Illustration von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die streikenden SchülerInnen haben das Land einen Moment aus seiner Apathie gerissen, haben Raum für Debatten eröffnet, das herrschende Modell in Frage gestellt und Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit für einen kurzen Moment wiederauferstehen lassen.
Nun arbeitet die Regierungskommission, und der Alltag ist wieder eingekehrt. Einige Schulen haben die Winterferien halbiert, um den im Streik ausgefallenen Unterricht nachzuholen. In der Villa Industrial bekommen die Kinder kostenlos warmes Mittagessen, denn die Arbeitslosigkeit ist im Winter hoch und viele Familien haben Schwierigkeiten, ihre Kleinen ausreichend zu ernähren.
Währenddessen präsentiert die chilenische Presse stolz auf den Titelseiten „Scorpene“, das neue U-Boot, das die Kriegsmarine in Europa gekauft hat. Der Minenkonzern Anglo American macht in einem guten Jahr allein in Chile schon mal satte 600 Millionen Dollar Gewinn und berichtet ausführlich über die 600.000 $, die er im selben Jahr für Sozialprogramme ausgegeben hat – immerhin fast ein Promille.
Bei diesem Konzern, genauer gesagt der Division Fundicion Chagres bei San Felipe, macht einer der Jugendlichen der Casa Walter Zielke ein einjähriges Praktikum. Während dieses Jahres wird er bezahlt und hat anschließend gute Chancen auf eine feste, ganzjährige und ordentlich entlohnte Arbeit.
So könnte er ein paar Krümel des Reichtums abbekommen, der in den Händen der chilenischen Oberschicht sowie in den Industriestaaten – auch in Deutschland - landet. Doch die Jungen im Zimmer neben ihm können kaum lesen oder Hausaufgaben machen – die schwache Glühbirne an der Decke reicht dazu einfach nicht aus.
Das Wirtschaftssystem des jeder-für-sich ohne Rücksicht auf den anderen oder die Gemeinschaft hat auch das Denken seiner Opfer geprägt. Wenn im Winter das Duschwasser von den Sonnenkollektoren der Casa nicht richtig warm wird, können sich manche Jungs Gas zum Wasserheizen kaufen. Sie bewahren ihre Gasflasche im Zimmer auf und holen sie raus, wenn sie selbst warmes Wasser brauchen. Die anderen müssen halt kalt duschen.
Mauricio versucht, als Direktor der Casa dagegen zu steuern. Er diskutiert mit den Jugendlichen, will erreichen, dass sie zumindest in Frage stellen, warum der eine warmes und der andere kaltes Wasser haben soll. Auch unser oben beschriebener Einsatz im Colegio Aleman ist nicht folgenlos geblieben. Einige Tage später übergab die Schule mehrere hundert Liter Milch und hunderte Bücher als Spenden an das centro communitario. Und vielleicht werden, wenn im nächsten Jahr SchülerInnen der Deutschen Schule regelmäßig im Zentrum arbeiten, einige sich fragen, warum nur sie in Wohlstand und mit guter Bildung aufwachsen dürfen – und möglicherweise wird der eine oder die andere zu dem Schluss kommen, dass es nicht so ein muss.
Dann hätten wir an der Deutschen Schule viel mehr erreicht, als nur Spenden einzusammeln.
Aber wer sind eigentlich „wir“ und was machen wir hier? Deutsche Jugendliche aus Mittelschicht und Bildungsbürgertum, die statt Bundeswehr ein Jahr Abenteuer und Erfahrungen im Ausland suchen. Die hier die Herzen von Kindern gewinnen und nach einem Jahr wieder gehen – nachdem wir sicher überall ein bisschen geholfen, aber vor allem sehr viel mehr mitgenommen haben, als wir bringen oder hinterlassen konnten. Das gilt für unsere Erfahrungen, unsere Selbstveränderung und die vielen gelebten Freuden – aber es lässt sich auch ökonomisch fassen.
Spanischkenntnisse, Auslandserfahrung und soziales Engagement sind in der deutschen Wirtschaft gefragte „soft skills“ und können uns unseren Weg weit nach oben bahnen. Vielleicht sitzen wir in fünfzehn Jahren im Management eines der Konzerne, die ihre Profite aus der Armut des Südens ziehen und können dann als Regionalspezialisten für Lateinamerika dabei helfen, die Lohnkosten zu senken oder dafür sorgen, dass unser Arbeitgeber weiterhin keine Steuern in Chile zahlen muss.
Für Maria Cesar aus der Villa Industrial wäre es sicher komisch, dass sie dann auf Order des deutschen „tio“ entlassen wird, der sie früher im centro communitario auf dem Karussell immer angeschoben hat.
So kann die Geschichte ausgehen – aber noch ist ihr Ende nicht geschrieben. Es liegt an uns, sie anders zu schreiben; unsere hier gewonnen Stärken und Erfahrungen in den Dienst derer zu stellen, mit und bei denen wir sie gewonnen haben.
Wir haben in spielenden und lernenden, lachenden und weinenden Kindern die Verhältnisse gesehen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
Und wir können diese Verhältnisse verändern.
Wir können es, wenn „wir“ nicht nur die alten und neuen Freiwilligen in San Felipe und Los Andes sind, sondern auch ihr und Sie, die unsere Berichte und die Informationen der FIFA lesen.
Ich hoffe, dass viele von euch und Ihnen ihren Teil dazu beitragen und (weiterhin) ermöglichen, dass hier in Chile Funken der Solidarität gestreut werden andere Jugendliche aus Deutschland Erfahrungen machen können, wie wir sie gemacht haben.
Nicht, um sich vom schlechten Gewissen freizukaufen und das unwohle Gefühl loszuwerden, dass manche hoffentlich beim Lesen dieser Zeilen befallen hat. Aber als eins von vielen Dingen, die jede und jeder dafür tun kann, dass die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht nur auferstehen, sondern endlich Wirklichkeit werden.
Einen kurzen Moment lang denke ich, dass sie genauso gut Kinder aus der Villa Industrial oder der 250, den Armenvierteln San Felipes, sein könnten – nette, aber unruhige Mädchen und Jungen, die halt auf einer anderen Schule sind. Doch dann tritt ihre Lehrerin in den Raum und fegt diese Illusion aus meinem Kopf.
Auch bei den Erst- und Zweitklässlern des Colegio Aleman macht sich der Unterschied an Herkunft, Erziehung und Bildung zu den Kindern in der Villa Industrial bemerkbar. Brav und im Chor begrüßen sie Tati, die versucht, ihnen das Leben Gleichaltriger auf der anderen Seite des Flusses zu erklären. Es ist nicht leicht, denn diese Kinder haben mit ihnen nicht viel gemeinsam.
Zwar arbeiten die Eltern beider Gruppen im Sommer im Export von Obst – doch während die Väter und Mütter des Colegio Aleman aus den Büros der Agrarkonzerne Ernte und Export organisieren, schuften die Familien aus der Villa Industrial auf den Weinfeldern und in den Verpackungsstationen.
Die einen können für jedes Kind 200.000 Pesos monatlich an die Schule zahlen, die anderen wären oft froh, wenn die ganze Familie so viel Geld für den Monat hätte.
So wie es sehr unwahrscheinlich ist, dass auch nur eins der Kinder, die im centro communitario der Villa Industrial spielen oder ihre Hausaufgaben machen, jemals einen Universitätsabschluss machen wird, so ist es wohl sicher, dass keine Schülerin und kein Schüler der Deutschen Schule jemals in Armut leben wird. Praktisch alle, die hier ihren Schulabschluss machen, können später studieren – sie haben die nötige Vorbildung und ihre Eltern können sich nach dem Schulgeld auch noch die Studiengebühren leisten.
Im schlechten öffentlichen Schulsystem schafft es nur die Hälfte der SchülerInnen an die Unis – wer dann noch aus einer armen Poblacion kommt und vielleicht Eltern hat, die nur drei oder vier Jahre zur Grundschule gegangen sind, hat keine Chance.
Diese Zustände haben vor Wochen zu den größten SchülerInnenstreiks und -protesten seit Jahrzehnten geführt. Die Regierung gestand einige finanzielle Erleichterungen für die ärmeren SchülerInnen zu und setzte eine Kommission für eine grundlegende Bildungsreform ein. Vielleicht kommen dabei einige Verbesserungen in der öffentlichen Bildung heraus – dass der Klassencharakter des chilenischen Bildungssystems aufgehoben wird, glaubt kaum noch jemand.
Als einstiges Muster- und Probeland neoliberaler Politik ist Chile auch heute noch ein Bilderbuch zur Illustration von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die streikenden SchülerInnen haben das Land einen Moment aus seiner Apathie gerissen, haben Raum für Debatten eröffnet, das herrschende Modell in Frage gestellt und Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit für einen kurzen Moment wiederauferstehen lassen.
Nun arbeitet die Regierungskommission, und der Alltag ist wieder eingekehrt. Einige Schulen haben die Winterferien halbiert, um den im Streik ausgefallenen Unterricht nachzuholen. In der Villa Industrial bekommen die Kinder kostenlos warmes Mittagessen, denn die Arbeitslosigkeit ist im Winter hoch und viele Familien haben Schwierigkeiten, ihre Kleinen ausreichend zu ernähren.
Währenddessen präsentiert die chilenische Presse stolz auf den Titelseiten „Scorpene“, das neue U-Boot, das die Kriegsmarine in Europa gekauft hat. Der Minenkonzern Anglo American macht in einem guten Jahr allein in Chile schon mal satte 600 Millionen Dollar Gewinn und berichtet ausführlich über die 600.000 $, die er im selben Jahr für Sozialprogramme ausgegeben hat – immerhin fast ein Promille.
Bei diesem Konzern, genauer gesagt der Division Fundicion Chagres bei San Felipe, macht einer der Jugendlichen der Casa Walter Zielke ein einjähriges Praktikum. Während dieses Jahres wird er bezahlt und hat anschließend gute Chancen auf eine feste, ganzjährige und ordentlich entlohnte Arbeit.
So könnte er ein paar Krümel des Reichtums abbekommen, der in den Händen der chilenischen Oberschicht sowie in den Industriestaaten – auch in Deutschland - landet. Doch die Jungen im Zimmer neben ihm können kaum lesen oder Hausaufgaben machen – die schwache Glühbirne an der Decke reicht dazu einfach nicht aus.
Das Wirtschaftssystem des jeder-für-sich ohne Rücksicht auf den anderen oder die Gemeinschaft hat auch das Denken seiner Opfer geprägt. Wenn im Winter das Duschwasser von den Sonnenkollektoren der Casa nicht richtig warm wird, können sich manche Jungs Gas zum Wasserheizen kaufen. Sie bewahren ihre Gasflasche im Zimmer auf und holen sie raus, wenn sie selbst warmes Wasser brauchen. Die anderen müssen halt kalt duschen.
Mauricio versucht, als Direktor der Casa dagegen zu steuern. Er diskutiert mit den Jugendlichen, will erreichen, dass sie zumindest in Frage stellen, warum der eine warmes und der andere kaltes Wasser haben soll. Auch unser oben beschriebener Einsatz im Colegio Aleman ist nicht folgenlos geblieben. Einige Tage später übergab die Schule mehrere hundert Liter Milch und hunderte Bücher als Spenden an das centro communitario. Und vielleicht werden, wenn im nächsten Jahr SchülerInnen der Deutschen Schule regelmäßig im Zentrum arbeiten, einige sich fragen, warum nur sie in Wohlstand und mit guter Bildung aufwachsen dürfen – und möglicherweise wird der eine oder die andere zu dem Schluss kommen, dass es nicht so ein muss.
Dann hätten wir an der Deutschen Schule viel mehr erreicht, als nur Spenden einzusammeln.
Aber wer sind eigentlich „wir“ und was machen wir hier? Deutsche Jugendliche aus Mittelschicht und Bildungsbürgertum, die statt Bundeswehr ein Jahr Abenteuer und Erfahrungen im Ausland suchen. Die hier die Herzen von Kindern gewinnen und nach einem Jahr wieder gehen – nachdem wir sicher überall ein bisschen geholfen, aber vor allem sehr viel mehr mitgenommen haben, als wir bringen oder hinterlassen konnten. Das gilt für unsere Erfahrungen, unsere Selbstveränderung und die vielen gelebten Freuden – aber es lässt sich auch ökonomisch fassen.
Spanischkenntnisse, Auslandserfahrung und soziales Engagement sind in der deutschen Wirtschaft gefragte „soft skills“ und können uns unseren Weg weit nach oben bahnen. Vielleicht sitzen wir in fünfzehn Jahren im Management eines der Konzerne, die ihre Profite aus der Armut des Südens ziehen und können dann als Regionalspezialisten für Lateinamerika dabei helfen, die Lohnkosten zu senken oder dafür sorgen, dass unser Arbeitgeber weiterhin keine Steuern in Chile zahlen muss.
Für Maria Cesar aus der Villa Industrial wäre es sicher komisch, dass sie dann auf Order des deutschen „tio“ entlassen wird, der sie früher im centro communitario auf dem Karussell immer angeschoben hat.
So kann die Geschichte ausgehen – aber noch ist ihr Ende nicht geschrieben. Es liegt an uns, sie anders zu schreiben; unsere hier gewonnen Stärken und Erfahrungen in den Dienst derer zu stellen, mit und bei denen wir sie gewonnen haben.
Wir haben in spielenden und lernenden, lachenden und weinenden Kindern die Verhältnisse gesehen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
Und wir können diese Verhältnisse verändern.
Wir können es, wenn „wir“ nicht nur die alten und neuen Freiwilligen in San Felipe und Los Andes sind, sondern auch ihr und Sie, die unsere Berichte und die Informationen der FIFA lesen.
Ich hoffe, dass viele von euch und Ihnen ihren Teil dazu beitragen und (weiterhin) ermöglichen, dass hier in Chile Funken der Solidarität gestreut werden andere Jugendliche aus Deutschland Erfahrungen machen können, wie wir sie gemacht haben.
Nicht, um sich vom schlechten Gewissen freizukaufen und das unwohle Gefühl loszuwerden, dass manche hoffentlich beim Lesen dieser Zeilen befallen hat. Aber als eins von vielen Dingen, die jede und jeder dafür tun kann, dass die Träume von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht nur auferstehen, sondern endlich Wirklichkeit werden.
felixpithan - 26. Jul, 22:57
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